ERSTES BILD
Wir befinden uns vor einem Bahnhofsgebäude und sehen von links nach rechts eine Tür, die nach dem ersten Stock führt, einen Fahrkartenschalter und abermals eine Tür mit Milchglasscheiben und der Überschrift »Stationsvorstand«. Daneben einige Signalhebel, Laufwerk und dergleichen. An der Wand kleben Fahrpläne und Reisereklame. Zwei Bänke. Rechts verläuft aus dem Hintergrunde nach vorne die Bahnsteigschranke, aber die Schienen sieht man nicht – man hört also nur die Ankunft, Abfahrt und Durchfahrt der Züge. Hier hält kein Express, ja nicht einmal ein Eilzug, denn der Ort, zu dem dieser Bahnhof gehört, ist nur ein etwas größeres Dorf. Es ist eine kleine Station, aber an einer großen Linie. Auf den Bänken warten zwei Reisende: Die Bäckermeistersgattin Frau Leimgruber und ein Waldarbeiter mit einem leeren Rucksack und einer Baumsäge. Das Läutwerk läutet, dann wird’s gleich wieder still. Jetzt kommt ein dritter Reisender von links mit Hand- und Aktentasche, ein Vertreter aus der Stadt. Er hält und blickt auf die Bahnhofsuhr. Es ist neun Uhr abends, eine warme Frühlingsnacht. Vertreter tritt an den Fahrkartenschalter und klopft, aber es rührt sich nichts, er klopft abermals, und zwar energisch.
Waldarbeiter „Da können’s lang klopfen, der macht erst knapp vor Abfahrt auf.“
Vertreter blickt wieder auf die Uhr: „Hat denn der Zug Verspätung?“
Frau Leimgruber lacht hellauf, zum Waldarbeiter: „Was sagen’s zu dieser Frage?“
Waldarbeiter grinst: „Der Herr kommt vom Mond“ – Zum Vertreter. „Natürlich haben wir Verspätung, dreiviertel Stund!“
Vertreter „Dreiviertel Stund? Elende Schlamperei“ – Er zündet sich wütend eine Zigarre an.
Frau Leimgruber „Es ist eben alles desorganisiert –“
Text aus dem Drama „Der Jüngste Tag“ von Ödem von Horvath
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